»Etwas anderes tun, als die Leute tun« – eine Erinnerung an Gisela Gronemeyer

Foto: Daniel Mennicken

Am vergangenen Sonntag ist unsere geschätzte Kollegin Gisela Gronemeyer völlig unerwartet verstorben. Noch in diesem Frühjahr arbeiteten wir eng mit Gisela zusammen und können diesen abrupten Verlust noch gar nicht recht fassen.

Als kritische, aber stets faire Musikjournalistin machte sich Gisela Gronemeyer einen Namen, bevor sie gemeinsam mit Reinhard Oehlschlägel eine der wichtigsten deutschen Zeitschriften für Neue Musik gründen sollte – die MusikTexte. Und auch mit den ersten deutschen Neue-Musik-Festivals für Komponistinnen »Experimentierfeld Frauenmusik« (1984) und »Frau Musica (nova)« (1998) leistete sie Pionierarbeit in einer männerdominierten Musik- und Medienwelt. Wir lernten Gisela als Aktivistin für die freie Szene mit viel Herzblut kennen, die ihre Unterstützung an allen Stellen unserer gemeinsamen Projekte miteinbrachte.

Wir trauern um einen liebenswerten Menschen, eine integre Kämpferin und eine kluge Kennerin, und sind zutiefst dankbar für die gemeinsame Zeit. Gute Reise, Gisela!

Mit ihrem großen Wissens- und Erfahrungsschatz war Gisela zwar immer mittendrin – im Mittelpunkt zu stehen, war jedoch nie ihre Sache. 2020 hatten Helene Heuser und Daniel Mennicken seltene Gelegenheit, Gisela zu einem Gespräch über ihren Werdegang zu treffen. Daraus entstand ein Beitrag für unsere Publikation »anwesend«, die 2021 im Rahmen des Projekts BTHVN 2020 erschien. Im folgenden der vollständige Beitrag von Helene Heuser und Daniel Mennicken.

Foto: Daniel Mennicken

»Etwas anderes tun, als die Leute tun« – Gisela Gronemeyer

Wer sich auch nur etwas mit neuer Musik beschäftigt, stößt früher oder später bei der Recherche auf den Namen Gisela Gronemeyer, spätestens im Impressum der MusikTexte, einer der wichtigsten Publikationen zu neuer Musik in Deutschland. Kaum jemand hat so viele Personen, die mittlerweile in die Geschichtsschreibung der zeitgenössischen Musik eingegangen sind, getroffen oder sich für diese und viele weitere Musiker:innen eingesetzt. Doch die hauptberufliche Musikjournalistin selbst ist einfach nicht googlebar. Nach erstem Zögern durften wir die Wahlkölnerin, die zwar immer mitten drin, aber nie im Scheinwerferlicht stand, auf ein Interview treffen und aus erster Hand über ihre turbulente Karriere, ihre Auseinandersetzung mit mächtigen Komponisten und ihr Engagement für Frauen in der neuen Musik erfahren und dabei feststellen: trotz großer Namen und Kunstmusik, im Geiste im sie Punk.

Du hast dir sowohl als Journalistin als auch in der Förderung von Komponistinnen im Bereich neue Musik einen Namen gemacht. Wie bist du zur neuen Musik gekommen?

Ich komme aus Sögel, einem kleinen Dorf im Emsland. Das hat eine Attraktion, nämlich das Jagdschloss Clemenswerth, ein barockes Architekturjuwel mit Sternenallee, Pavillons und Kapuzinerkloster. Es hieß immer, dass keine Frau jemals ihren Fuß in den Klostergarten setzen dürfe, und wir Mädchen haben dann immer unsere Füße durch den Zaun gesteckt, um dieses Verbot zu unterlaufen.

Mit der Bildungsreform kam Mitte der Sechzigerjahre ein Gymnasium in unser Dorf und damit auch ein richtiger Musiklehrer. Der hat für das Kulturangebot des Orts, das es vorher nicht gab, unheimlich viel bewirkt: Er hat die Gründung des Kulturkreis Clemenswerth betrieben, und ich war von Anfang an dabei. Das Schloss, das vorher verrammelt war, wurde aufgemacht, ich habe dort auf der Blockflöte das erste Konzert gegeben und dabei schon neue Musik gespielt.

Wie bist du dann vom Musizieren zum Schreiben über Musik gekommen?

Im Schloss und in der Schulaula veranstaltete der Kulturkreis Konzerte, Theater, ab und zu sogar Opern, ›Stars‹ wie Ivan Rebroff und Chris Barber traten da auf. Und der Witz war, dass es niemanden gab, der darüber schreiben konnte oder wollte. So habe ich also die Programmhefte geschrieben und auch gleich die Rezensionen für die lokale Ems-Zeitung. Eigentlich hatte ich gar keine Ahnung, aber ich habe mich, so gut es ging, in der Schülerbücherei vorbereitet und mir für Konzerte vorher Schallplatten besorgt, um Interpretationsvergleiche anstellen zu können. Das war eine gute Schule. Gleichzeitig war ich ›Chefredakteur‹ – so steht es im Impressum – der 1972 gegründeten Schülerzeitung. Das war meine erste journalistische Tätigkeit – sozusagen learning by doing. Für mich war dann schnell klar, dass ich Journalistin werden wollte.

Was hast du studiert? Schulen für Journalismus gab es damals ja noch nicht.

Ich habe zuerst in Göttingen studiert, weil mein Onkel dort Studentenzimmer vermietete: Germanistik, Musikwissenschaft und Publizistik. Die Musikwissenschaft war ein sehr kleiner, familiärer Kreis – in Heinrich Husmanns Oberseminar über mittelalterliche Musik saßen ich schon im zweiten Semester. Ich bekam gleich einen HiWi-Job und betreute die dort angesiedelte Musikinstrumentensammlung von Hermann Moeck. Eine ältere Studentin schrieb Musikkritiken im Göttinger Tageblatt und ließ sich manchmal durch mich vertreten.

Dann aber hat meine Mutter in der FAZ gelesen, dass an der Kölner Musikhochschule 1975 ein Medienseminar eröffnet würde, das der Musikjournalist Peter Fuhrmann leiten sollte. Da bin ich nach der Zwischenprüfung sofort hin. Das war eine gute Schule. Wir mussten zum Beispiel Einführungen in Konzerte elektronischer Musik an der Musikhochschule geben, auch wenn ich noch gar nichts darüber wusste. Außerdem hatte Fuhrmann gute Beziehungen zum WDR und Deutschlandfunk und hat uns dort Praktika vermittelt. Im Deutschlandfunk habe ich die Abteilungen »Kultur heute«, Literatur und Musik durchlaufen und durfte gleich eigene Sendebeiträge machen.

Lol Coxhill Solo Konzert im Studio Beginner, Köln, 25.05.1979 / Gisela an der Kasse und Walter Zimmermann

Wie bist du dann zur neuen Musik gekommen?

Ich habe alle möglichen Konzerte besucht und landete dabei auch irgendwann in Walter Zimmermanns Beginner Studio am Gottesweg. Dort gefiel es mir so gut, dass ich fortan in fast jedes Konzert ging, manchmal zweimal in der Woche. Zu fränkischem Gerupften und Tucher-Pils traten dort vor allem Composer/Performer auf, die nicht die ›offizielle‹ neue Musik vorstellten, zum Beispiel Steve Lacy, Phill Niblock, David Behrman und Frederic Rzewski aus den USA, Michael Nyman, Misha Mengelberg und René Bastian aus Europa, Michael von Biel aus der BRD und improvisierte Musik aus der DDR, aber auch mal ein japanischer Shakuhachi-Spieler, afrikanische Trommler oder das Ensemble Sequentia mit mittelalterlicher Musik.

Wie präsent war das Beginner-Studio für das Musikpublikum in der Stadt? Ging man nur zu Zimmermann, wenn man davon wusste? Oder gab es mediale Hinweise?

Durchaus. Über ein Konzert im Beginner Studio habe ich zum Beispiel meine erste Kritik im Kölner Stadt-Anzeiger geschrieben, das war im Sommer ’79. Das war sogar ein Vierspalter, das wäre heute undenkbar. Für die Saison-Programme des Beginner Studios habe ich dann auch kleine Texte verfasst und bin mit Konzertanimationen durch Kölner und Bonner Schulen gezogen.

Dann hast du dich also schon früh nicht nur als Journalistin, sondern auch als Aktivistin für die Entwicklung der Freien Szene in Köln engagiert. Einerseits warst du also kritische Rezensentin und andererseits Teil der Szene. Führte das nicht auch zu Konflikten?

Klar, zum Beispiel mit Mauricio Kagel, der eine Phobie gegen Musikkritiker hatte. Angeblich las er gar keine Musikkritiken, aber es hatte sich schon herumgesprochen, dass er einen Ausschnittdienst beschäftigte. In meiner Kritik seines 1980 uraufgeführten Stücks »Finale« hatte ich geschrieben, dass der Clou des Stücks – der Dirigent Kagel fiel am Ende wie tot um – eigentlich keine Überraschung mehr war. Kagel hat seit dem Tag nicht mehr mit mir gesprochen und sich beim Herausgeber Alfred Neven-Dumont beschwert: »Diese Frau macht mich kaputt.«

Kagels Match Caskel und Palm beim Musikfest im Kunstverein, 1982 (nicht im Bild: zweiter Cellist Othello Liesmann). Foto: Gisela Gronemeyer

Eine ganz andere Erfahrung habe ich mit Karlheinz Stockhausen gemacht. Zuerst hatte ich mich, wie viele andere auch, in meinen Kritiken über seine kosmologischen Vorstellungen mokiert. Dann hat mich die Zeitung aber einmal für ihre Lokalausgabe zu einem Stockhausen-Konzert im Bergischen Löwen nach Bergisch-Gladbach geschickt. Und ich dachte mir, da kann ich jetzt nicht so schreiben wie für das große Köln. Ich habe dann in meiner Kritik versucht, Stockhausens Musik dem Publikum eher zu vermitteln. Danach bekam ich einen Brief von Stockhausen, in dem er sich überschwänglich bedankte und so etwas sagte wie: »Der Ton macht die Musik«. Da habe ich verstanden, dass sich manches im Spannungsfeld zwischen Komponist und Kritiker abbauen lässt, wenn man den richtigen Ton trifft. Trotzdem war ich Stockhausen gegenüber fortan nicht unkritisch, sondern habe zum Beispiel sein Frauenbild kritisiert, was er zwar nicht akzeptiert, aber geschluckt hat.

Gab es auch Konflikte mit Veranstaltern, die gleichzeitig auch Arbeitgeber sind, wie zum Beispiel der Rundfunk?

Natürlich, zum Beispiel mit dem WDR, wo ich in den frühen Achtzigerjahren mein Hauptgeld verdiente. Nachdem ich mich im Stadt-Anzeiger zu Programmen des WDR mehrfach kritisch geäußert hatte, wurde ich von den Herren Programmverantwortlichen vor die Alternative gestellt, entweder für den WDR oder für den Stadt-Anzeiger zu arbeiten. Käuflich wollte ich nicht sein, auch wenn ich dadurch meine Haupteinnahmequelle verloren habe.

Für den Kölner Stadt-Anzeiger schreibst du heute aber auch nicht mehr.

Das hatte andere Gründe. Während ich in den Achtzigern und Neunzigern noch aus aller Welt berichten konnte, wurde die Berichterstattung allmählich immer mehr auf Köln reduziert. Als man sich zum Schluss nicht einmal mehr für die Musiktage in Witten und Donaueschingen interessierte, habe ich den Büttel hingeschmissen. Das war 2004, nach fünfundzwanzig Jahren.

Die Achtziger waren für die Kölner Szene wichtige Aufbruchjahre, in denen du auch mitgemischt hast. Welche Ziele habt ihr damals verfolgt?

Das waren in erster Linie Selbsthilfe-Initiativen einer Szene, die sonst kaum Unterstützung hatte. Bei der Neugründung der Kölner Gesellschaft für Neue Musik (KGNM) ging es 1981 zum Beispiel darum, zwischen der „offiziellen“ neuen Musik des WDR auf der einen Seite, Feedback und Beginner Studio auf der anderen Seite zu vermitteln. Die Kölner Komponisten suchten in der KGNM ein Forum für Aufführungen und Austausch. Neben den Aktivitäten der beiden ›Studios‹ ist hier der Anfang der sogenannten Freien Szene zu sehen, die dann auch von der Stadt gefördert wurden, nachdem diese vorher die Zuständigkeit für neue Musik immer dem WDR zugeschoben hatte.

Die erste Veranstaltung der KGNM war 1982 ein großes Musikfest im Kölnischen Kunstverein, an dem sich Komponisten und Interpreten beider ›Lager‹ beteiligten. Wie Herbert Henck, der seine Neuland-Jahrbücher selbst auf der Schreibmaschine tippte, schafften wir eine IBM Selectric (erste elektrische Schreibmaschine mit Kugelkopf) an, auf der ich die ersten KGNM-Programmhefte schrieb. Die Gründungsversammlung hatte übrigens ganz bewusst im Beginner Studio stattgefunden, mit dem Ergebnis, dass von Walter Zimmermann, Gerald Barry und Chris Newman am nächsten Tag – ohne weitere Folgen – eine »Kölner Gesellschaft für neuere Musik« gegründet wurde.

Pauline Oliveros – Sonic Meditations. Bonn Festival Frau und Musik, November 1980. Vorne liegend: Gisela Gronemeyer. Foto: Reinhard Oehlschlägel

War die Veranstaltung von Komponistinnen-Konzerten dann auch so eine Selbsthilfe-Initiative?

Beim ersten Festival »Frau und Musik« von Elke Mascha Blankenburg ging es vorwiegend um ältere Musik, aber es war ein Anfang, der die Pianistin Deborah Richards und mich ermutigt hat, 1984 ein Neue-Musik-Festival unter dem Titel »Experimentierfeld Frauenmusik« zu veranstalten. Mit dem stolzen Etat von 30.000 Mark konnten wir immerhin Christina Kubisch, Joëlle Léandre, Jana Haimsohn, Pauline Oliveros, das Ensemble Modern und andere einladen.

Ein wichtiger Schritt. Trotzdem dauerte es vierzehn Jahre, bis ihr mit Frau Musica (nova) ein zweites Festival veranstalten konntet.

Da sah die Situation schon ganz anders an. Allerdings hatten wir noch gegen Männerbastionen zu kämpfen, zum Beispiel im WDR. Bei der Redaktion ›Neue Musik‹ hatten wir um Mitschnitte angefragt: null Interesse. Zum Glück hatten wir damals eine Kulturministerin in Nordrhein-Westfalen, Ilse Brusis. Nachdem wir ihr unser Leid mit dem WDR geklagt hatten, schrieb sie einen Brief auf höchster Ebene, und die daraus folgende Zusammenarbeit mit dem Jazzredakteur des WDR, Ulrich Kurth, lief wunderbar.

Worum ging es euch denn inhaltlich dabei?

Während es beim ersten Festival noch darum ging, Komponistinnen erstmal vorzustellen, konnten wir im zweiten ihre Präsenz im heutigen Musikleben schon feiern und zeigen, dass Frauen anders komponieren als Männer.

Inwiefern? Veranstaltungstitel wie z.B. ›Frauenmusik‹ lassen darauf schließen, dass die bewusste auch künstlerische Abgrenzung als Moment der Emanzipation angesehen wurde.

Diese Frage hat Christa Wolf einmal sehr gut beantwortet. Sie hat gesagt, dass Frauen die Welt aus einer anderen Perspektive wahrnehmen als Männer, und das schlägt sich in ihrer Sprache, ihrer Literatur genauso nieder wie in ihrer Musik. Nicht von ungefähr haben die ersten Frauen in der US-amerikanischen New Music, Meredith Monk, Pauline Oliveros, Joan La Barbara, ihre eigene Stimme zum Gegenstand ihrer Musik gemacht: »Voice Is the Original Instrument.« Wenn Oliveros sich mit ihrem Akkordeon hingesetzt und gesagt hat: »I let my body choose«, dann kam da unverwechselbare Musik heraus.

Ein weiteres Festival hat es aber nicht gegeben?

Nein, aber Frau Musica (nova) war weiter aktiv. In Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk haben wir seit 1999 jährlich ein Konzert veranstaltet. So haben wir in Porträtkonzerten bis 2012 Komponistinnen vorgestellt, die eine eigene Handschrift haben, in Deutschland aber noch weitgehend unbekannt sind: zum Beispiel aus Skandinavien, Polen, den USA, Aserbeidschan, Spanien, Rumänien, Russland, Japan und Kanada. Nach zehn Jahren war es für mich an der Zeit, den Stab weiterzugeben, den Brigitta Muntendorf (Komponistin und Professorin an der HfMT Köln) mit einem anders gearteten Konzept übernommen hat.

Brauchen Komponistinnen immer noch besondere Unterstützung, um aufgeführt zu werden?

Inzwischen kann es sich kein Neue-Musik-Festival mehr leisten, die Arbeit von Komponistinnen zu ignorieren, im Gegenteil: Es spricht für die Fortschrittlichkeit von Programmen, wenn viele Namen von Frauen darauf stehen. Deshalb haben sie es im Moment vielleicht nicht schwerer, sondern sogar leichter als ihre männlichen Kollegen. Das meinte neulich auch die Komponistin Carola Bauckholt, die sich auch noch durchkämpfen musste. Bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik und den Donaueschinger Musiktagen wurde bis in die Achtzigerjahre so gut wie keine Komponistin aufgeführt. Ich erinnere mich daran, dass Mia Schmidt mir erzählte, dass sie in Ohnmacht gefallen sei, als sie erfuhr, dass sie 1982 als erste Frau in Witten aufgeführt werden sollte. »Typisch Frau« – diesen Kommentar konnte ich mir damals in der Frankfurter Rundschau nicht verkneifen.

Publikum mit Wolf Herzogenrath und Reinhard Oehlschlägel bei der Aufführung von Schwiters Ursonate durch Bernd Rauschenbach (Musikfest im Kunstverein). Foto: Gisela Gronemeyer

War die Gründung der MusikTexte dann auch so eine Selbsthilfe-Iniative?

Natürlich! Mein Lebenspartner Reinhard Oehlschlägel und ich haben die MusikTexte in einer Situation gegründet, in der es in der Bundesrepublik schlicht keine Zeitschrift für neue Musik gab, nachdem der Melos sein Erscheinen 1980 eingestellt hatte.

Selbsthilfe also in dem Sinn, sich irgendwo ein Sprachrohr zu verschaffen.

Genau. Wir haben gesagt, wenn kein Verlag sich dafür interessiert, machen wir die Zeitschrift eben im Selbstverlag. Da erstmal gar kein Startkapital vorhanden war, hatten wir die Idee, Rundfunksendungen, die nur in ihrem Sendegebiet gehört werden können und auch dort mehr oder weniger im Äther verpuffen, zu verschriftlichen. Reinhard war Redakteur für Musik im Deutschlandfunk und holte zwei Kollegen, Ulrich Dibelius vom Bayerischen und Ernstalbrecht Stiebler vom Hessischen Rundfunk, mit ins Boot. Auch heute sind Rundfunksendungen immer noch ein wichtiger Stützpfeiler unserer Arbeit. Darüber hinaus haben wir damals auch viel aus ausländischen Musikzeitschriften – die es heute fast alle nicht mehr gibt – übersetzt und Vorträge oder Symposionsbeiträge in Druckfassungen zugänglich gemacht. Von Anfang waren die MusikTexte ein Non-Profit-Unternehmen, das zuerst nur deshalb existieren konnte, weil Herausgeber und Autoren auf Honorare verzichtet haben. Mit dem Einzug der Digitalisierung ins Satz- und Druckgewerbe wurde die Herstellung der Zeitschrift billiger, sodass wir uns inzwischen leisten können, Autorenhonorare zu zahlen. Schließlich kann man von Leuten, die vom Schreiben leben müssen, nicht erwarten, dass sie umsonst arbeiten.

Daneben setzt ihr euch auch für die Förderung junger Autor:innen ein.

2015 haben wir das »Forum junger Autoren« ins Leben gerufen. Angehende Musikjournalisten können wissenschaftliche und andere Texte über neue Musik einreichen, aus denen wir eine Auswahl – gegen Honorar – veröffentlichen. Damit knüpfen wir an das Nachwuchsforum für Komponisten, Interpreten und Musikologen an, das wir von 1996 bis 2001 zusammen mit der Gesellschaft für Neue Musik und dem Ensemble Modern organisiert hatten. Nach dessen Auflösungen standen vor allem die Musikologen im Regen, während Komponisten und Interpreten auch anderweitig gefördert werden.

Es fehlt den MusikTexten also nicht an Nachwuchsautor:innen. Wie sieht es mit euren Abonennt:innen aus?

Es waren mal über tausend. In den Achtziger- und Neunzigerjahren haben uns Buchhandlungen wie König, Bittner und Tonger jeweils zehn Exemplare pro Ausgabe abgenommen und auch verkauft! Heute müssen wir uns ähnlichen Herausforderungen stellen wie fast alle Printmedien: Der Markt verlagert sich in den Online-Bereich, und dort ist kaum noch jemand bereit, für Qualitätsjournalismus zu zahlen. Trotzdem haben wir noch keine Existenzsorgen, auch deshalb nicht, weil die Zeitschrift von der Edition MusikTexte gestützt wird.

Wie kam es zur Gründung dieser Buchreihe mit den gesammelten Schriften einzelner Komponisten?

1988 war ich beim New Music America Festival in Miami. Dort gab es eine Gedenkveranstaltung für Morton Feldman, der ein Jahr zuvor gestorben war. Da hat John Cage eine Mischung aus Texten vorgetragen, deren Herkunft mir unbekannt war. Ich habe ihn also danach gefragt. Er sagte, die Texte stammten aus einer Transkription von Radiogesprächen, die er 1966/67 mit Feldman geführt hatte, und ergänzte: »Wenn der Verlag ›Marion Boyars‹, dem ich sie gerade zur Veröffentlichung angeboten habe, nicht interessiert ist, könnt ihr sie haben.« Und dann kam noch die Frage: »Könnt ihr sie zweisprachig herausbringen?« So kam es zu unserem ersten Buch. Für die folgenden ist unser Grundprinzip immer gewesen, dass wir nur Texte von Komponisten veröffentlichen, die niemand anders in Verlag nehmen will, wie eben die von Chris Newman, Alvin Lucier, Christian Wolff, Klaus Huber, Frederic Rzewski, Morton Feldman, Robert Ashley, Karel Goeyvaerts, Giacinto Scelsi, Peter Ablinger und Tom Johnson, getreu der Leitlinie: »Etwas anderes tun, als die Leute tun.« Diese Formulierung stammt nicht von mir, sondern von dem holländischen Komponisten Louis Andriessen. Nicht das tun, was andere Zeitschriften und Verlage schon tun. So haben die MusikTexte sich auch nicht am Hype um den Neuen Konzeptualismus beteiligt, sondern erst einmal in Ruhe abgewartet und zwei Jahre später mit einem kritischen Kommentar und einer Umfrage reagiert. Damit will ich nicht sagen, dass unser Ansatz der einzig wahre ist. Er ergänzt sich gut mit anderen Publikationen, die sich hierzulande mit neuer Musik beschäftigen, den ›Positionen‹ und der ›Neuen Zeitschrift für Musik‹.

Beginner-Studio Regenbogen-Plakat, März bis Juni 1979. Collage aus Fotos von Guido Conen

Eine kritische Frage: Bei all dem Einsatz für Komponistinnen fiel uns auf, dass in der EditionMusikTexte nur Schriften von Männern veröffentlicht sind.

Stimmt, das spiegelt die Realität wider. Was ich an unveröffentlichten Schriften von Komponistinnen kenne, füllt noch keine Bände. Die Texte von Pauline Oliveros hätte ich gern herausgebracht, aber die sind schon 1984 erschienen. Stattdessen habe ich dafür gesorgt, dass Komponistinnen immer wieder in der Zeitschrift vorkommen. Bereits 1984 hatten wir ihnen ein erstes Schwerpunktheft gewidmet. Im gleichen Jahr erschien »Neuland 4«, eine Anthologie mit Texten von und über Komponistinnen, herausgegeben von Herbert Henck, Deborah Richards und mir.

Wir brauchen für unsere Arbeit noch einen Tipp von dir: Schreibt man Neue Musik mit kleinem oder großem »N«?

In Paul Bekkers Essay »Neue Musik« von 1919 ist das »n« im Text selbst kleingeschrieben. Zum großen »N« wurde es erst im Namen der 1922 gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, was dann ab 1946 auch die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt übernommen haben. Neu mit kleinem »n« ist dagegen die Musik, die heute entsteht, ohne klare stilistische, materiale oder nationale Beschränkungen. Dieser Begriff umfasst, ähnlich wie die »new music« in den USA, viel mehr als Konzertmusik, schließt diese aber auch nicht aus.

Auch die Popmusik nicht?

Natürlich nicht. Die Einbeziehung von Popmusik in Kompositionen und Festivals ist nicht einmal ein neuer Trend. Nehmen wir nur das Jahr 2016: Da lautete das Motto der Donaueschinger Musiktage zum Beispiel »Avantgarde greift nach Popmusik«, die Klangspuren Schwaz widmeten sich dem Thema »Comic. Cartoon. Graffiti!« und die Darmstädter Ferienkurse präsentierten Stücke von Bernhard Gander, Johannes Kreidler, Eva Reiter, François Sarhan und Jennifer Walshe, die alle irgendwie multimedial, interdisziplinär und konzeptuell komponieren. Auch die MusikTexte befassen sich mit Phänomenen wie Noise, Glitch, Chiptunes, DJ- und Videospielmusik: das alles und noch viel mehr ist »neue Musik«.

Das Interview führten Helene Heuser und Daniel Mennicken. Der Beitrag erschien in der Publikation »anwesend« in 2021. Das Buch ist Teil des Projekts »Wir bringen die Blase zum Platzen!« (ein Projekt im Rahmen von BTHVN 2020) von ON Cologne.